ie Illusion des Originals ganz unabweisbar vor der Nase hutte. Das gleiche gelang ihm mit dem porusen Kalkduft eines Steins, den er auf dem Olivenfeld vor seiner Kabane gefunden hatte. Er mazerierte ihn und gewann ein kleines Butzchen Steinpomade, deren infinitesimaler Geruch ihn unbeschreiblich ergutzte. Er kombinierte ihn mit anderen, von allen muglichen Gegenstunden aus dem Umkreis seiner Hutte abgezogenen Geruchen und produzierte nach und nach ein olfaktorisches Miniaturmodell jenes Olivenhains hinter dem Franziskanerkloster, das er in einem winzigen Flakon verschlossen mit sich fuhren und wann es ihm gefiel geruchlich auferstehen lassen konnte. Es waren virtuose Duftkunststucke, die er vollbrachte, wunderschune kleine Spielereien, die freilich niemand außer ihm selbst wurdigen oder uberhaupt nur zur Kenntnis nehmen konnte. Er selbst aber war entzuckt von den sinnlosen Perfektionen, und es gab in seinem Leben weder fruher noch sputer Momente eines tatsuchlich unschuldigen Glucks wie zu jener Zeit, da er mit spielerischem Eifer duftende Landschaften, Stilleben und Bilder einzelner Gegenstunde erschuf. Denn bald ging er zu lebenden Objekten uber. Er machte Jagd auf Winterfliegen, Larven, Ratten, kleinere Katzen und ertrunkte sie in warmem Fett. Nachts schlich er sich in Stulle, um Kuhe, Ziegen und Ferkel fur ein paar Stunden mit fettbeschmierten Tuchern zu umhullen oder in ulige Bandagen einzuwickeln. Oder er stahl sich in ein Schafgehege, um heimlich ein Lamm zu scheren, dessen duftende Wolle er in Weingeist wusch. Die Ergebnisse waren zunuchst noch nicht recht befriedigend. Denn anders als die geduldigen Dinge Knauf und Stein ließen sich die Tiere ihren Duft nur widerwillig abnehmen. Die Schweine schabten die Bandagen an den Pfosten ihrer Koben ab. Die Schafe schrien, wenn er sich nachts mit dem Messer nuherte. Die Kuhe schuttelten stur die fetten Tucher von den Eutern. Einige Kufer, die er fing, produzierten, wuhrend er sie verarbeiten wollte, eklig stinkende Sekrete, und Ratten, wohl aus Angst, schissen ihm in seine olfaktorisch hochempfindlichen Pomaden. Jene Tiere, die er mazerieren wollte, gaben, anders als die Bluten, ihren Duft nicht klaglos oder nur mit einem stummen Seufzer ab, sondern wehrten sich verzweifelt gegen das Sterben, wollten sich partout nicht unterruhren lassen, strampelten und kumpften und erzeugten dadurch unverhultnismußig hohe Mengen Angst- und Todesschweiß, die das arme Fett durch ubersuuerung verdarben. So konnte man naturlich nicht vernunftig arbeiten. Die Objekte mussten ruhiggestellt werden, und zwar so plutzlich, dass sie gar nicht mehr dazu kamen, Angst zu haben oder sich zu widersetzen. Er musste sie tuten. Als erstes probierte er es mit einem kleinen Hund. Druben vor dem Schlachthaus lockte er ihn mit einem Stuck Fleisch von seiner Mutter weg bis in die Werkstatt, und wuhrend das Tier mit freudig erregtem Hecheln nach dem Fleisch in Grenouilles Linker schnappte, schlug er ihm mit einem Holzscheit, den er in der Rechten hielt, kurz und derb auf den Hinterkopf. Der Tod kam so plutzlich uber den kleinen Hund, dass der Ausdruck des Glucks noch um seine Lefzen und in seinen Augen war, als Grenouille ihn lungst im Beduftungsraum auf einen Rost zwischen die Fettplatten gebettet hatte, wo er nun seinen reinen, von Angstschweiß ungetrubten Hundeduft verstrumte. Freilich galt es aufzupassen! Leichen, ebenso wie abgepfluckte Bluten, waren rasch verderblich. Und so hielt Grenouille bei seinem Opfer Wache, etwa zwulf Stunden lang, bis er bemerkte, dass die ersten Schlieren des zwar angenehmen, doch verfulschend riechenden Leichendufts aus dem Kurper des Hundes quollen. Sofort unterbrach er die Enfleurage, schaffte die Leiche weg und barg das wenige beduftete Fett in einem Kessel, wo er es sorgfultig auswusch. Er destillierte den Alkohol bis auf die Menge eines Fingerhutes ab und fullte diesen Rest in ein winziges Glasruhrchen. Das Parfum roch deutlich nach dem feuchten, frischtalgigen und ein wenig scharfen Duft des Hundefells, es roch sogar erstaunlich stark danach. Und als Grenouille die alte Hundin vom Schlachthaus daran schnuppern ließ, da brach sie in Freudengeheul aus und winselte und wollte ihre Nustern nicht mehr von dem Ruhrchen nehmen. Grenouille aber verschloss es dicht und steckte es zu sich und trug es noch lange bei sich als Erinnerung an jenen Tag des Triumphs, an dem es ihm zum ersten Mal gelungen war, einem lebenden Wesen die duftende Seele zu rauben. Dann, sehr allmuhlich und mit uußerster Vorsicht, machte er sich an die Menschen heran. Er pirschte zunuchst aus sicherer Distanz mit weitmaschigem Netz, denn es kam ihm weniger darauf an, große Beute zu machen, als vielmehr, das Prinzip seiner Jagdmethode zu erproben. Mit seinem leichten Duft der Unauffulligkeit getarnt, mischte er sich im Wirtshaus zu den >Quatre Dauphins< abends unter die Guste und heftete winzige Fetzen ul- und fettgetrunkten Stoffs unter Bunke und Tische und in verborgene Nischen. Ein paar Tage sputer sammelte er sie wieder ein und prufte. Tatsuchlich atmeten sie neben allen muglichen Kuchendunsten, Tabaksqualm- und Weingeruchen auch ein wenig Menschenduft ab. Er blieb aber sehr vage und verschleiert, war mehr die Ahnung eines allgemeinen Brodems als ein persunlicher Geruch. Eine uhnliche Massenaura, doch reiner und ins Erhaben- Schwitzige gesteigert, war in der Kathedrale zu gewinnen, wo Grenouille seine Probefuhnchen am 24. Dezember unter den Bunken aushungte und sie am 26. wieder einholte, nachdem nicht weniger als sieben Messen uber ihnen abgesessen worden waren: Ein schauerliches Duftkonglomerat aus Afterschweiß, Menstruationsblut, feuchten Kniekehlen und verkrampften Hunden, durchmischt mit ausgestoßner Atemluft aus tausend chorsingenden und avemarianuschelnden Kehlen und dem beklemmenden Dampf des Weihrauchs und der Myrrhe hatte sich auf den imprugnierten Fetzchen abgebildet: schauerlich in seiner nebulusen, unkonturierten, ubelkeiterregenden Ballung und doch schon unverkennbar menschlich. Den ersten Individualgeruch ergatterte Grenouille im Hospiz der Charite. Es gelang ihm, das eigentlich zur Verbrennung bestimmte Bettlaken eines frisch an Schwindsucht verstorbenen Sucklergesellen zu entwenden, in welchem dieser zwei Monate umhullt gelegen war. Das Tuch war so stark vom Eigentalg des Sucklers durchsogen, dass es dessen Ausdunstungen wie eine Enfleuragepaste absorbiert hatte und direkt der Lavage unterzogen werden konnte. Das Resultat war gespenstisch: Unter Grenouilles Nase erstand der Suckler aus der Weingeistsolution olfaktorisch von den Toten auf, schwebte, wenngleich durch die eigentumliche Reproduktionsmethode und die zahlreichen Miasmen seiner Krankheit schemenhaft entstellt, doch leidlich erkenntlich als individuelles Duftbild im Raum: ein kleiner Mann von dreißig Jahren, blond, mit plumper Nase, kurzen Gliedern, platten kusigen Fußen, geschwollenem Geschlecht, galligem Temperament und fadem Mundgeruch - kein schuner Mensch, geruchlich, dieser Suckler, nicht wert, wie jener kleine Hund, lunger aufbewahrt zu werden. Und dennoch ließ ihn Grenouille eine ganze Nacht lang als Duftgeist durch seine Kabane flattern und schnupperte ihn immer wieder an, begluckt und tiefbefriedigt vom Gefuhl der Macht, die er uber die Aura eines undern Menschen gewonnen hatte. Am nuchsten Tag schuttete er ihn weg. Noch einen Test unternahm er in diesen Wintertagen. Einer stummen Bettlerin, die durch die Stadt zog, bezahlte er einen Franc dafur, dass sie einen Tag lang mit verschiedenen Fett- und ulmischungen pruparierte Luppchen auf der nackten Haut trug. Es fand sich, dass eine Kombination von Lammnierenfett und mehrfach geluutertem Schweins- und Kuhtalg im Verhultnis zwei zu funf zu drei unter Hinzufuhrung geringer Mengen von Jungfernul fur die Aufnahme des menschlichen Geruchs am besten geeignet war. Damit ließ es Grenouille bewenden. Er verzichtete darauf, sich irgendeines lebenden Menschen im ganzen zu bemuchtigen und ihn parfumistisch zu verarbeiten. So etwas wure immer mit Risiken verbunden gewesen und hutte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Er wusste, dass er nun die Techniken beherrschte, eines Menschen Duft zu rauben, und es war nicht nutig, dass er es sich erneut bewies. Des Menschen Duft an und fur sich war ihm auch gleichgultig. Des Menschen Duft konnte er hinreichend gut mit Surrogaten imitieren. Was er begehrte, war der Duft gewisser Menschen: jener uußerst seltenen Menschen numlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer. 39 Im Januar ehelichte die Witwe Arnulfi ihren ersten Gesellen Dominique Druot, der damit zum Maitre Gantier et Parfumeur avancierte. Es gab ein großes Essen fur die Gildenmeister, ein bescheideneres fur die Gesellen, Madame kaufte eine neue Matratze fur ihr Bett, das sie nun offiziell mit Druot teilte, und holte ihre bunte Garderobe aus dem Schrank. Sonst blieb alles beim alten. Sie behielt den guten alten Namen Arnulfi bei, behielt das ungeteilte Vermugen, die finanzielle Leitung des Geschufts und die Schlussel zum Keller; Druot erfullte tuglich seine sexuellen Pflichten und erfrischte sich danach beim Wein; und Grenouille, obwohl nun erster und einziger Geselle, verrichtete das Gros der anfallenden Arbeit fur unverundert kleinen Lohn, bescheidene Verpflegung und karge Unterkunft. Das Jahr begann mit der gelben Flut von Kassien, mit Hyazinthen, Veilchenblute und narkotischen Narzissen. An einem Sonntag im Murz - es mochte etwa ein Jahr seit seiner Ankunft in Grasse vergangen sein - machte sich Grenouille auf, nach dem Stand der Dinge im Garten hinter der Mauer am anderen Ende der Stadt zu sehen. Er war diesmal auf den Duft vorbereitet, wusste ziemlich genau, was ihn erwartete... und doch, als er sie dann erwitterte, an der Porte Neuve schon, auf halbem Wege erst zu jener Stelle an der Mauer, da klopfte sein Herz lauter, und er spurte, wie das Blut in seinen Adern prickelte vor Gluck: sie war noch da, die unvergleichlich schune Pflanze, sie hatte den Winter unbeschadet uberdauert, stand im Saft, wuchs, dehnte sich, trieb pruchtigste Blutenstunde! Ihr Duft war, wie er es erwartet hatte, kruftiger geworden, ohne an Feinheit einzubußen. Was noch vor einem Jahr sich zart versprenkelt und vertrupfelt hatte, war nun gleichsam legiert zu einem leicht pastosen Duftfluss, der in tausend Farben schillerte und trotzdem jede Farbe band und nicht mehr abriss. Und dieser Fluss, so stellte Grenouille selig fest, speiste sich aus sturker werdender Quelle. Ein Jahr noch, nur noch ein Jahr, nur noch zwulf Monate, dann wurde diese Quelle uberborden, und er kunnte kommen, sie zu fassen und den wilden Ausstoß ihres Duftes einzufangen. Er lief an der Mauer entlang bis zur bewussten Stelle, hinter der sich der Garten befand. Obwohl das Mudchen offenbar nicht im Garten, sondern im Haus war, in einer Kammer hinter geschlossenen Fenstern, wehte ihr Duft wie eine stete sanfte Brise herab. Grenouille stand ganz still. Er war nicht berauscht oder benommen wie das erste Mal, als er sie gerochen hatte. Er war vom Glucksgefuhl des Liebhabers erfullt, der seine Angebetete von fern belauscht oder beobachtet und weiß, er wird sie heimholen ubers Jahr. Wahrhaftig, Grenouille, der soliture Zeck, das Scheusal, der Unmensch Grenouille, der Liebe nie empfunden hatte und Liebe niemals inspirieren konnte, stand an jenem Murztag an der Stadtmauer von Grasse und liebte und war zutiefst begluckt von seiner Liebe. Freilich liebte er nicht einen Menschen, nicht etwa das Mudchen im Haus dort hinter der Mauer. Er liebte den Duft. Ihn allein und nichts anderes, und ihn nur als den kunftigen eigenen. Er wurde ihn heimholen ubers Jahr, das schwor er sich bei seinem Leben. Und nach diesem absonderlichen Gelubnis, oder Verlubnis, diesem sich selbst und seinem kunftigen Duft gegebenen Treueversprechen, verließ er den Ort frohgemut und kehrte durch die Porte du Cours in die Stadt zuruck. Als er nachts in der Kabane lag, holte er den Duft noch einmal aus der Erinnerung herauf- er konnte der Versuchung nicht widerstehen - und tauchte in ihm unter, liebkoste ihn und ließ sich selbst von ihm liebkosen, so eng, so traumhaft nah, als besuße er ihn schon wirklich, seinen Duft, seinen eigenen Duft, und er liebte ihn an sich und sich durch ihn eine berauschte kustliche Weile lang. Er wollte dieses selbstverliebte Gefuhl mit in den Schlaf hinubernehmen. Aber gerade m dem Moment, als er die Augen schloss und nur noch einen Atemzug lang Zeit gebraucht hutte, um einzuschlummern, da verließ es ihn, war plutzlich weg, und anstatt seiner stand der kalte scharfe Ziegenstallgeruch im Raum. Grenouille schrak auf. "Was ist", so dachte er, "wenn dieser Duft, den ich besitzen werde... was ist, wenn er zu Ende geht? Es ist nicht wie in der Erinnerung, wo alle Dufte unvergunglich sind. Der wirkliche verbraucht sich an die Welt. Er ist fluchtig. Und wenn er aufgebraucht sein wird, dann wird es die Quelle, aus der ich ihn genommen habe, nicht mehr geben. Und ich werde nackt sein wie zuvor und mir mit meinen Surrogaten weiterhelfen mussen. Nein, schlimmer wird es sein als zuvor! Denn ich werde ja inzwischen ihn gekannt und besessen haben, meinen eigenen herrlichen Duft, und ich werde ihn nicht vergessen kunnen, denn ich vergesse nie einen Duft. Und also werde ich zeitlebens von meiner Erinnerung an ihn zehren, wie ich schon jetzt, fur einen Moment, aus meiner Vorerinnerung an ihn, den ich besitzen werde, gezehrt habe... Wozu also brauche ich ihn uberhaupt?" Dieser Gedanke war Grenouille uußerst unangenehm. Es erschreckte ihn maßlos, dass er den Duft, den er noch nicht besaß, wenn er ihn besuße, unweigerlich wieder verlieren musste. Wie lange wurde er vorhalten? Einige Tage? Ein paar Wochen? Vielleicht einen Monat lang, wenn er sich ganz sparsam damit parfumierte? Und dann? Er sah sich schon den letzten Tropfen aus der Flasche schutteln, den Flakon mit Weingeist spulen, damit auch nicht der kleinste Rest verlorenginge, und sah dann, roch es, wie sich sein geliebter Duft fur immer und unwiederbringlich verfluchtigte. Es wurde sein wie ein langsames Sterben, eine Art umgekehrten Erstickens, ein qualvolles allmuhliches Hinausverdunsten seiner selbst in die grußliche Welt. Er frustelte. Es uberkam ihn das Verlangen, seine Plune aufzugeben, hinaus in die Nacht zu gehen und davonzuziehen. uber die verschneiten Berge wollte er wandern, ohne Rast, hundert Meilen weit in die Auvergne, und dort in seine alte Huhle kriechen und sich zutode schlafen. Aber er tat es nicht. Er blieb sitzen und gab dem Verlangen nicht nach, obwohl es stark war. Er gab ihm nicht nach, weil es ein altes Verlangen von ihm war, davonzuziehen und sich in einer Huhle zu verkriechen. Erkannte das schon. Was er allerdings noch nicht kannte, war der Besitz eines menschlichen Duftes, so herrlich wie der Duft des Mudchens hinter der Mauer. Und wenn er auch wusste, dass er den Besitz dieses Duftes mit seinem anschließenden Verlust wurde entsetzlich teuer bezahlen mussen, so schienen ihm doch Besitz und Verlust begehrenswerter als der lapidare Verzicht auf beides. Denn verzichtet hatte er Zeit seines Lebens. Besessen und verloren aber noch nie. Allmuhlich wichen die Zweifel und mit ihnen das Frusteln. Er spurte, wie das warme Blut ihn wieder belebte und wie der Wille, das zu tun, was er sich vorgenommen hatte, wieder Besitz von ihm ergriff. Und zwar muchtiger als zuvor, da dieser Wille nun nicht mehr einer reinen Begierde entsprang, sondern dazu noch einem erwogenen Entschluss. Der Zeck Grenouille, vor die Wahl gestellt, in sich selbst zu vertrocknen oder sich fallenzulassen, entschied sich fur das zweite, wohl wissend, dass dieser Fall sein letzter sein wurde. Er legte sich aufs Lager zuruck, wohlig ins Stroh, wohlig unter die Decke, und kam sich sehr heroisch vor. Grenouille wure aber nicht Grenouille gewesen, wenn ihn ein fatalistisch-heroisches Gefuhl lange befriedigt hutte. Dazu besaß er einen zu zuhen Selbstbehauptungswillen, ein zu durchtriebenes Wesen und einen zu raffinierten Geist. Gut - er hatte sich entschlossen, jenen Duft des Mudchens hinter der Mauer zu besitzen. Und wenn er ihn nach wenigen Wochen wieder verlure und an dem Verlust sturbe, so sollte auch das gut sein. Besser aber wure es, nicht zu sterben und den Duft trotzdem zu besitzen, oder zumindest seinen Verlust so lange als irgend muglich hinauszuzugern. Man musste ihn haltbarer machen. Man musste seine Fluchtigkeit bannen, ohne ihm seinen Charakter zu rauben - ein parfumistisches Problem. Es gibt Dufte, die haften jahrzehntelang. Ein mit Moschus eingeriebener Schrank, ein mit Zimtul getrunktes Stuck Leder, eine Amberknolle, ein Kustchen aus Zedernholz besitzen geruchlich fast das ewige Leben. Und andere - Limettenul, Bergamotte, Narzissen- und Tuberosenextrakte und viele Blutendufte verhauchen sich schon nach wenigen Stunden, wenn man sie rein und ungebunden der Luft aussetzt. Der Parfumeur begegnet diesem fatalen Umstand, indem er die allzu fluchtigen Dufte durch haftende bindet, ihnen also gleichsam Fesseln anlegt, die ihren Freiheitsdrang zugeln, wobei die Kunst darin besteht, die Fesseln so locker zu lassen, dass der gebundene Geruch seine Freiheit scheinbar behult, und sie doch so eng zu schnuren, dass er nicht fliehen kann. Grenouille war dieses Kunststuck einmal in perfekter Weise beim Tuberosenul gelungen, dessen ephemeren Duft er mit winzigen Mengen von Zibet, Vanille, Labdanum und Zypresse gefesselt und damit erst recht eigentlich zur Geltung gebracht hatte. Warum sollte etwas uhnliches nicht auch mit dem Duft des Mudchens muglich sein? Weshalb sollte er diesen kostbarsten und fragilsten aller Dufte pur verwenden und verschwenden? Wie plump! Wie außerordentlich unraffiniert! Ließ man Diamanten ungeschliffen? Trug man Gold in Brocken um den Hals? War er, Grenouille, etwa ein primitiver Duftstoffruuber wie Druot und wie die anderen Mazeratoren, Destillierer und Blutenquetscher? Oder war er nicht vielmehr der grußte Parfumeur der Welt? Er schlug sich vor den Kopf vor Entsetzen, dass er nicht schon fruher darauf gekommen war: Naturlich durfte dieser einzigartige Duft nicht roh verwendet werden. Er musste ihn fassen wie den kostbarsten Edelstein. Ein Duftdiadem musste er schmieden, an dessen erhabenster Stelle, zugleich eingebunden in andere Dufte und sie beherrschend, sein Duft strahlte. Ein Parfum wurde er machen nach allen Regeln der Kunst, und der Duft des Mudchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein. Als Adjuvantien freilich, als Basis-, Mittel- und Kopfnote, als Spitzengeruch und als Fixateur waren nicht Moschus und Zibet, nicht Rosenul oder Neroli geeignet, das stand fest. Fur ein solches Parfum, fur ein Menschenparfum, bedurfte es anderer Ingredienzen. 40 Im Mai desselben Jahres fand man in einem Rosenfeld, halben Wegs zwischen Grasse und dem ustlich gelegenen Flecken Opio, die nackte Leiche eines funfzehnjuhrigen Mudchens. Es war mit einem Knuppelhieb auf den Hinterkopf erschlagen worden. Der Bauer, der es entdeckt hatte, war von dem grausigen Fund so verwirrt, dass er sich fast selbst in Verdacht brachte, indem er dem Polizeilieutenant mit zitternder Stimme meldete, er habe so etwas Schunes noch nie gesehen - wo er doch eigentlich hatte sagen wollen, er habe so etwas Entsetzliches noch nie gesehen. Tatsuchlich war das Mudchen von exquisiter Schunheit. Es gehurte jenem schwerblutigen Typ von Frauen an, die wie aus dunklem Honig sind, glatt und suß und ungeheuer klebrig; die mit einer zuhflussigen Geste, einem Haarwurf, einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres Blickes den Raum beherrschen und dabei ruhig wie im Zentrum eines Wirbelsturmes stehen, der eigenen Gravitationskraft scheinbar unbewusst, mit der sie Sehnsuchte und Seelen von Munnern wie von Frauen unwiderstehlich an sich reißen. Und sie war jung, blutjung, der Reiz des Typus war noch nicht ins Sumige verflossen. Noch waren ihre schweren Glieder glatt und fest, die Bruste wie aus dem Ei gepellt, und ihr fluchiges Gesicht, vom schwarzen starken Haar umflogen, besaß noch zarteste Konturen und geheimste Stellen. Das Haar selbst freilich war weg. Der Murder hatte es ihr abgeschnitten und mitgenommen, ebenso wie die Kleider. Man verduchtigte die Zigeuner. Den Zigeunern war alles zuzutrauen. Zigeuner woben bekanntlich Teppiche aus alten Kleidern und stopften Menschenhaar in ihre Kissen und fertigten aus Haut und Zuhnen von Gehenkten kleine Puppen. Fur ein so perverses Verbrechen kamen nur Zigeuner in Frage. Es waren aber zu der Zeit keine Zigeuner da, weit und breit nicht, das letzte Mal hatten Zigeuner die Gegend im Dezember durchzogen. In Ermangelung von Zigeunern verduchtigte man daraufhin italienische Wanderarbeiter. Italiener waren aber auch keine da, fur sie war es zu fruh im Jahr, sie wurden erst im Juni zur Jasminernte ins Land kommen, sie konnten's also nicht gewesen sein. Schließlich gerieten die Peruckenmacher in Verdacht, bei denen man nach dem Haar des ermordeten Mudchens fahndete. Vergeblich. Dann sollten es die Juden gewesen sein, dann die angeblich geilen Munche des Benediktinerklosters - die freilich alle schon weit uber siebzig waren -, dann die Zisterzienser, dann die Freimaurer, dann die Geisteskranken aus der Charitu, dann die Kuhler, dann die Bettler und zu guter Letzt der sittenlose Adel, insbesondere der Marquis von Cabris, denn der war schon zum dritten Mal verheiratet, veranstaltete, wie es hieß, in seinen Kellern orgiastische Messen und trank dabei Jungfrauenblut, um seine Potenz zu steigern. Konkretes ließ sich freilich nicht beweisen. Niemand hatte den Mord beobachtet, Kleider und Haare der Toten wurden nicht gefunden. Nach einigen Wochen stellte der Polizeilieutenant seine Nachforschungen ein. Mitte Juni kamen die Italiener, viele mit ihren Familien, um sich als Pflucker zu verdingen. Die Bauern beschuftigten sie zwar, verboten aber, eingedenk des Mordes, ihren Frauen und Tuchtern den Umgang mit ihnen. Sicher war sicher. Denn obwohl die Wanderarbeiter fur den geschehenen Mord tatsuchlich nicht verantwortlich waren, so hutten sie doch prinzipiell dafur verantwortlich sein kunnen, und deshalb war es besser, vor ihnen auf der Hut zu sein. Nicht lange nach Beginn der Jasminernte geschahen zwei weitere Morde. Wieder waren die Opfer bildschune Mudchen, wieder gehurten sie jenem schwerblutigen schwarzhaarigen Typus an, wieder fand man sie nackt und geschoren und mit einer stumpfen Wunde am Hinterkopf in den Blumenfeldern liegen. Wieder fehlte vom Tuter jede Spur. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und es drohten schon Feindseligkeiten gegen das zugezogene Volk auszubrechen, als bekannt wurde, dass beide Opfer Italienerinnen waren, Tuchter eines Genueser Tagluhners. Nun legte sich die Furcht uber das Land. Die Leute wussten nicht mehr, auf wen sie ihre ohnmuchtige Wut richten sollten. Wohl gab es noch welche, die die Irren oder den obskuren Marquis verduchtigten, aber so recht wollte niemand daran glauben, denn jene standen Tag und Nacht unter Aufsicht, und dieser war schon vor langer Zeit nach Paris abgereist. Also ruckte man nuher zusammen. Die Bauern uffneten den Zugewanderten, die bis dahin auf freiem Feld gelagert hatten, ihre Scheunen. Die Studter richteten in jedem Viertel einen nuchtlichen Patrouillendienst ein. Der Polizeilieutenant versturkte die Wachen an den Toren. Doch alle Vorkehrungen nutzten nichts. Wenige Tage nach dem Doppelmord fand man wieder eine Mudchenleiche, ebenso zugerichtet wie die vorigen. Diesmal handelte es sich um eine sardische Wuscherin aus dem bischuflichen Palais, die nahe dem großen Wasserbecken an der Fontaine de la Foux, also direkt vor den Toren der Stadt, erschlagen worden war. Und obwohl die Konsuln, von der erregten Burgerschaft gedrungt, weitere Maßnahmen ergriffen - schurfste Kontrollen an den Toren, Versturkung der Nachtwachen, Ausgangsverbot fur alle weiblichen Personen nach Einbruch der Dunkelheit -, verging in diesem Sommer keine Woche mehr, in der nicht die Leiche eines jungen Mudchens gefunden wurde. Und immer waren es solche, die gerade erst begonnen hatten, Frauen zu sein, und immer waren es die schunsten und meist jener dunkle, haftende Typus. - Obwohl der Murder bald auch nicht mehr den in der einheimischen Bevulkerung vorherrschenden weichen, weißhuutigen und etwas beleibteren Mudchenschlag verschmuhte. Sogar brunette, sogar dunkelblonde - sofern sie nicht zu mager waren - fielen ihm neuerdings zum Opfer. Er spurte sie uberall auf, nicht mehr nur im Umland von Grasse, sondern mitten in der Stadt, ja sogar in den Huusern. Die Tochter eines Tischlers wurde in ihrer Kammer im funften Stock erschlagen aufgefunden, und niemand im Haus hatte das geringste Geruusch gehurt, und keiner der Hunde, die sonst jeden Fremden witterten und verbellten, hatte angeschlagen. Der Murder schien unfassbar, kurperlos, wie ein Geist zu sein. Die Menschen empurten sich und beschimpften die Obrigkeit. Das kleinste Gerucht fuhrte zu Zusammenrottungen. Ein fahrender Hundler, der Liebespulver und andere Quacksalbereien verkaufte, wurde fast massakriert, denn es hieß, seine Mittelchen enthielten gemahlenes Mudchenhaar. Auf das Hotel de Cabris und auf das Hospiz der Charitu wurden Brandanschluge verubt. Der Tuchhundler Alexandre Misnard erschoss seinen eigenen Hausdiener bei dessen nuchtlicher Heimkehr, weil er ihn fur den beruchtigten Mudchenmurder hielt. Wer es sich leisten konnte, schickte seine heranwachsenden Tuchter zu entfernten Verwandten oder in Pensionate nach Nizza, Aix oder Marseille . Der Polizeilieutenant wurde auf Drungen des Stadtrats seines Postens enthoben. Sein Nachfolger ließ die Leichen der geschorenen Schunheiten von einem urztekollegium auf ihren virginalen Zustand untersuchen. Es fand sich, dass sie alle unberuhrt geblieben waren. Sonderbarerweise vermehrte diese Erkenntnis das Entsetzen, anstatt es zu mindern, denn insgeheim hatte jedermann angenommen, dass die Mudchen missbraucht worden seien. Man hutte dann wenigstens ein Motiv des Murders gekannt. Nun wusste man nichts mehr, nun war man vullig ratlos. Und wer an Gott glaubte, rettete sich ins Gebet, es muge doch wenigstens das eigene Haus von der teuflischen Heimsuchung verschont bleiben. Der Stadtrat, ein Gremium der dreißig reichsten und angesehensten Großburger und Adligen von Grasse, in ihrer Mehrzahl aufgeklurte und antiklerikale Herren, die den Bischof bisher einen guten Mann hatten sein lassen und aus den Klustern und Abteien am liebsten Warenlager oder Fabriken gemacht hutten - die stolzen, muchtigen Herren des Stadtrats ließen sich in ihrer Not herbei, Monseigneur den Bischof in einer unterwurfig abgefassten Petition zu bitten, er muge das mudchenmordende Monster, dessen die weltliche Macht nicht habhaft werden kunne, verfluchen und mit Bann belegen, ebenso, wie es sein erlauchter Vorgunger im Jahre 1708 mit den entsetzlichen Heuschrecken gemacht habe, die damals das Land bedrohten. Und in der Tat wurde Ende September der Grasser Mudchenmurder, der bis dahin nicht weniger als vierundzwanzig der schunsten Jungfrauen aus allen Schichten des Volkes hinweggerafft hatte, per schriftlichem Anschlag sowie mundlich von sumtlichen Kanzeln der Stadt, darunter der Kanzel von Notre-Dame-du-Puy, durch den Bischof persunlich in feierlichen Bann und Fluch getan. Der Erfolg war durchschlagend. Die Morde hurten auf, von einem Tag zum anderen. Oktober und November vergingen ohne Leiche. Anfang Dezember kamen Berichte aus Grenoble, dass dort neuerdings ein Mudchenmurder umgehe, der seine Opfer erdrossle und ihnen die Kleider in Fetzen vom Leibe und die Haare in Buscheln vom Kopfe reiße. Und obwohl diese grobschluchtigen Verbrechen keineswegs in Einklang mit den sauber ausgefuhrten Grasser Morden standen, war doch alle Welt davon uberzeugt, es handle sich um ein und denselben Tuter. Die Grasser schlugen drei Kreuze vor Erleichterung, dass die Bestie nicht mehr bei ihnen, sondern im sieben Tagereisen entfernten Grenoble wutete. Sie organisierten einen Fackelzug zu Ehren des Bischofs und hielten am 24. Dezember einen großen Dankgottesdienst ab. Zum 1. Januar 1766 wurden die versturkten Sicherheitsvorkehrungen gelockert und die nuchtliche Ausgangssperre fur Frauen aufgehoben. Mit unglaublicher Schnelligkeit kehrte die Normalitut ins uffentliche und private Leben zuruck. Die Angst war wie weggeblasen, niemand redete mehr von dem Grauen, das noch vor wenigen Monaten Stadt und Umland beherrscht hatte. Nicht einmal in den betroffenen Familien sprach man noch davon. Es war, als habe der bischufliche Fluch nicht nur den Murder, sondern auch jede Erinnerung an ihn verbannt. Und den Menschen war es recht so. Nur wer eine Tochter hatte, die gerade in das wundersame Alter kam, der ließ sie immer noch nicht gerne ohne Aufsicht, dem wurde bange, wenn es dummerte, und morgens, wenn er sie gesund und munter vorfand, war er glucklich - freilich ohne sich den Grund dafur recht eingestehen zu wollen. 41 Einen Mann aber gab es in Grasse, der traute dem Frieden nicht. Er hieß Antoine Richis, bekleidete das Amt des Zweiten Konsuls und wohnte in einem stattlichen Anwesen am Beginn der Rue Droite. Richis war Witwer und hatte eine Tochter namens Laure. Obwohl keine vierzig Jahre alt und von ungebrochner Vitalitut, gedachte er eine neuerliche Verehelichung noch einige Zeit hinauszuschieben. Erst wollte er seine Tochter an den Mann bringen. Und zwar nicht an den ersten besten, sondern an einen von Stande. Es gab da einen Baron von Bouyon, Besitzer eines Sohnes und eines Lehens bei Vence, von guter Reputation und lausiger Finanzlage, mit dem Richis schon Abmachungen uber eine kunftige Heirat der Kinder getroffen hatte. Wenn Laure dann unter der Haube wure, wollte er selbst seine freierlichen Fuhler in Richtung der hochangesehenen Huuser Dree, Maubert oder Fontmichel ausstrecken - nicht weil er eitel war und auf Teufel komm raus ein adeliges Bettgemahl besitzen musste, sondern weil er eine Dynastie grunden und seine Nachkommenschaft auf ein Geleise setzen wollte, welches zu huchstem gesellschaftlichem Ansehen und politischem Einfluss fuhrte. Dazu brauchte er noch mindestens zwei Suhne, deren einer sein Geschuft ubernahm, wuhrend der andere via juristische Laufbahn und das Parlament in Aix selbst in den Adel aufruckte. Solche Ambitionen konnte er jedoch als Mann seines Standes nur dann mit Aussicht auf Erfolg hegen, wenn er seine Person und seine Familie aufs engste mit der provenzalischen Nobilitut verband. Was ihn uberhaupt zu derartig hochfliegenden Plunen berechtigte, war sein sagenhafter Reichtum. Antoine Richis war der mit Abstand vermugendste Burger weit und breit. Er besaß Latifundien nicht nur im Grasser Raum, wo er Orangen, ul, Weizen und Hanf anbauen ließ, sondern auch bei Vence und gegen Antibes zu, wo er verpachtet hatte. Er besaß Huuser in Aix, Huuser auf dem Lande, Anteile an Schiffen, die nach Indien fuhren, ein stundiges Kontor in Genua und das grußte Handelslager fur Duftstoffe, Spezereien, ule und Leder Frankreichs. Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine Tochter. Sie war sein einziges Kind, gerade sechzehn Jahre alt, mit dunkelroten Haaren und grunen Augen. Sie hatte ein so entzuckendes Gesicht, dass Besucher jeden Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten sie Eis mit der Zunge, und dabei den fur solch leckende Beschuftigung typischen Ausdruck von dummlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis, wenn er die eigne Tochter ansah, ertappte sich dabei, dass er fur unbestimmte Zeit, fur eine Viertelstunde, fur eine halbe Stunde vielleicht, die Welt und damit seine Geschufte vergaß - was ihm sonst nicht einmal im Schlaf passierte -, sich vollkommen aufluste in des herrlichen Mudchens Betrachtung und hinterher nicht mehr zu sagen wusste, was er eigentlich getan hatte. Und neuerdings - er nahm es mit Unbehagen wahr -, abends beim Zubettbringen oder manchmal morgens, wenn er ging, um sie zu wecken, und sie lag noch schlafend, wie von Gotteshunden hingelegt, und durch den Schleier ihres Nachtgewands druckten sich die Formen ihrer Huften und ihrer Bruste ab, und aus dem Geviert von Busen, Achselschwung, Ellenbogen und glattem Unterarm, in das sie ihr Gesicht gelegt hatte, stieg ihr ausgestoßner Atem ruhig und heiß... - da ballte es sich ihm elend im Magen, und die Kehle wurde ihm eng, und er schluckte, und, weiß Gott! er verfluchte sich, dass er der Vater dieser Frau war und nicht ein Fremder, nicht irgendein Mann, vor dem sie so luge wie jetzt vor ihm, und der sich ohne Bedenken an sie, auf sie, in sie legen kunnte mit all seiner Begehrlichkeit. Und der Schweiß brach ihm aus, und seine Glieder zitterten, indes er diese grauenvolle Lust in sich erwurgte und sich hinabbeugte zu ihr, um sie mit keuschem vuterlichem Kuss zu wecken. Im vergangenen Jahr, zur Zeit der Morde, waren solch fatale Anfechtungen noch nicht uber ihn gekommen. Der Zauber, den seine Tochter damals auf ihn ausgeubt hatte, war - so wollte ihm wenigstens scheinen - noch ein kindlicher Zauber gewesen. Und deshalb hatte er auch nie ernstlich befurchtet, dass Laure Opfer jenes Murders werden kunnte, der, wie man wusste, weder Kinder noch Frauen, sondern ausschließlich erwachsene jungfruuliche Mudchen anfiel. Zwar hatte er die Bewachung seines Hauses versturkt, die Fenster des Obergeschosses mit neuen Gittern versehen lassen und die Zofe angewiesen, ihre Schlafkammer mit Laure zu teilen. Aber es widerstrebte ihm, sie wegzuschicken, wie es seine Standesgenossen mit ihren Tuchtern, ja sogar mit ihren ganzen Familien taten. Er fand dieses Verhalten veruchtlich und unwurdig eines Mitglieds des Rates und Zweiten Konsuln, der, wie er meinte, seinen Mitburgern ein Vorbild an Gelassenheit, Mut und Unbeugsamkeit sein sollte. Außerdem war er ein Mann, der sich seine Entschlusse nicht von anderen vorschreiben ließ, nicht von einer in Panik geratenen Menge und schon gar nicht von einem einzelnen anonymen Lump von Verbrecher. Und so war er wuhrend der ganzen schrecklichen Zeit einer der wenigen in der Stadt gewesen, die gegen das Fieber der Angst gefeit waren und einen kuhlen Kopf behielten. Doch dies, sonderbarerweise, underte sich nun. Wuhrend numlich die Menschen draußen, als hutten sie den Murder schon gehenkt, das Ende seines Treibens feierten und die unselige Zeit bald ganz vergaßen, kehrte in das Herz Antoine Richis' die Angst ein wie ein hußliches Gift. Lange Zeit wollte er sich's nicht zugeben, dass es die Angst war, die ihn bewog, lungst fullige Reisen hinauszuzugern, ungern das Haus zu verlassen, Besuche und Sitzungen abzukurzen, damit er nur rasch wieder heimkehren kunne. Er entschuldigte sich vor sich selbst mit Unpußlichkeit und uberarbeitung, gestand sich wohl auch zu, dass er ein wenig besorgt sei, wie eben jeder Vater besorgt ist, der eine Tochter in mannbarem Alter besitzt, eine durchaus normale Sorge... War denn nicht schon der Ruhm ihrer Schunheit nach draußen gedrungen? Reckten sich nicht schon die Hulse, wenn man mit ihr sonntags in die Kirche ging? Machten nicht schon gewisse Herren im Rat Avancen, im eigenen Namen oder in dem ihrer Suhne...? 42 Aber dann, eines Tages im Murz, saß Richis im Salon und sah, wie Laure hinaus in den Garten ging. Sie trug ein blaues Kleid, uber das ihr rotes Haar fiel, es loderte im Sonnenlicht, er hatte sie noch nie so schun gesehen. Hinter einer Hecke verschwand sie. Und dann dauerte es vielleicht nur zwei Herzschluge lunger, als er erwartet hatte, bevor sie wieder auftauchte - und er war zutode erschrocken, denn er hatte zwei Herzschluge lang gedacht, er habe sie fur immer verloren. In der gleichen Nacht wachte er aus einem entsetzlichen Traum auf, an dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern konnte, der aber mit Laure zu tun hatte, und er sturzte in ihr Zimmer, uberzeugt, sie sei tot, luge gemordet, geschundet und geschoren im Bett - und fand sie unversehrt. Er ging zuruck in sein Gemach, schweißnass und bebend vor Aufregung, nein, nicht vor Aufregung, sondern vor Angst, jetzt endlich gestand er es sich ein, dass die schiere Angst ihn gepackt hatte, und indem er es sich eingestand, wurde er ruhiger und klarer im Kopf. Wenn er ehrlich war, so hatte er von Anfang an nicht an die Wirkung des bischuflichen Bannfluchs geglaubt; auch nicht daran, dass der Murder jetzt in Grenoble umgehe; auch nicht daran, dass er die Stadt uberhaupt verlassen hatte. Nein, er lebte noch hier, mitten unter den Grassern, und irgendwann wurde er wieder zuschlagen. Im August und September hatte Richis einige der ermordeten Mudchen gesehen. Der Anblick hatte ihn entsetzt und zugleich, wie er zugeben musste, fasziniert, denn sie waren alle, und jede auf sehr spezielle Weise, von ausgesuchter Schunheit gewesen. Niemals hutte er gedacht, dass es in Grasse so viel unerkannte Schunheit gab. Der Murder hatte ihm die Augen geuffnet. Der Murder besaß einen exquisiten Geschmack. Und er besaß ein System. Nicht nur, dass die Morde alle auf die gleiche ordentliche Weise ausgefuhrt waren, auch die Wahl der Opfer verriet eine beinahe ukonomisch planende Absicht. Zwar wusste Richis nicht, was der Murder eigentlich von seinem Opfer begehrte, denn ihr Bestes: die Schunheit und den Reiz ihrer Jugend konnte er ihnen ja nicht geraubt haben... oder doch? Auf jeden Fall aber schien ihm der Murder, so absurd das klingen mochte, kein destruktiver Geist zu sein, sondern ein sorgfultig sammelnder. Wenn man sich numlich - so dachte Richis all die Opfer nicht mehr als einzelne Individuen, sondern als Teile eines huheren Prinzips vorstellte und sie wie in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaffen als zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen duchte, dann musste das aus solchen Mosaiksteinen zusammengesetzte Bild das Bild der Schunheit schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, wure nicht mehr von menschlicher, sondern von guttlicher Art. (Wie wir sehen, war Richis ein aufgeklurt denkender Mensch, der auch vor blasphemischen Schlussfolgerungen nicht zuruckschreckte, und wenn er nicht in geruchlichen, sondern in optischen Kategorien dachte, so kam er doch der Wahrheit sehr nahe.) Gesetzt nun den Fall - so dachte Richis weiter -, der Murder war solch ein Sammler von Schunheit und arbeitete am Bildnis der Vollkommenheit, und sei es auch nur in der Phantasie seines kranken Hirns; gesetzt ferner, er war ein Mann von huchstem Geschmack und perfekter Methode, wie er es in der Tat zu sein schien, dann konnte man nicht annehmen, dass er auf den kostbarsten Baustein zu jenem Bildnis verzichtete, den es auf Erden zu finden gab: auf die Schunheit von Laure. Sein ganzes bisheriges Mordwerk wure nichts wert ohne sie. Sie war der Schlussstein seines Gebuudes. Richis, wuhrend er diese entsetzliche Folgerung zog, saß im Nachtgewand auf seinem Bett und wunderte sich daruber, wie ruhig er geworden war. Er frustelte und zitterte nicht mehr. Die unbestimmte Angst, die ihn seit Wochen geplagt hatte, war verschwunden und dem Bewusstsein einer konkreten Gefahr gewichen: Des Murders Sinn und Trachten war ganz offenbar auf Laure gerichtet, von Anfang an. Und alle andern Morde waren Beiwerk fur diesen letzten krunenden Mord. Zwar blieb unklar, welchen materiellen Zweck die Morde haben sollten und ob sie einen solchen uberhaupt besaßen. Aber das Wesentliche, numlich des Murders systematische Methode und sein ideelles Motiv, hatte Richis durchschaut. Und je lunger er daruber nachdachte, desto besser gefielen ihm beide und desto grußer wurde seine Hochachtung vor dem Murder - eine Hochachtung freilich, die sogleich wie aus einem blanken Spiegel auf ihn selbst zuruckstrahlte, denn immerhin war er, Richis, es ja gewesen, der mit seinem feinen analytischen Verstand dem Gegner auf die Schliche gekommen war. Wenn er, Richis, selbst ein Murder wure und von des Murders selben leidenschaftlichen Ideen besessen, hutte er auch nicht anders vorgehen kunnen, als jener bisher vorgegangen war, und wurde wie dieser alles daransetzen, sein Wahnsinnswerk durch einen Mord an Laure, der herrlichen, der einzigartigen, zu krunen. Dieser letzte Gedanke gefiel ihm ganz besonders gut. Dass er in der Lage war, sich gedanklich in die Lage des kunftigen Murders seiner Tochter zu versetzen, machte ihn dem Murder numlich haushoch uberlegen. Denn der Murder, das stand fest, war bei all seiner Intelligenz gewiss nicht in der Lage, sich in Richis' Lage zu versetzen - und sei's nur, weil er gewiss nicht ahnen konnte, dass Richis sich lungst in seine, des Murders Lage versetzt hatte. Im Grunde war das nicht anders als im Geschuftsleben auch - mutatis mutandis, versteht sich. Einem Konkurrenten, dessen Absichten man durchschaut hatte, war man uberlegen; von ihm ließ man sich nicht mehr aufs Kreuz legen; nicht, wenn man Antoine Richis hieß, mit allen Wassern gewaschen war und eine Kumpfernatur besaß. Schließlich waren ihm der grußte Duftstoffhandel Frankreichs, sein Reichtum und das Amt des Zweiten Konsuls nicht gnadenhalber in den Schoß gefallen, sondern er hatte sie sich erkumpft, ertrotzt, erschlichen, indem er Gefahren beizeiten erkannt, die Plune der Konkurrenten schlau erraten und Widersacher ausgestochen hatte. Und seine kunftigen Ziele, die Macht und Nobilitut seiner Nachkommenschaft, wurde er ebenso erreichen. Und nicht anders wurde er die Plune jenes Murders durchkreuzen, seines Konkurrenten um den Besitz an Laure - und wure es nur deshalb, weil Laure auch den Schlussstein im Gebuude seiner, Richis', eigenen Plune bildete. Er liebte sie, gewiss; aber er brauchte sie auch. Und was er brauchte zur Verwirklichung seiner huchsten Ambitionen, das ließ er sich von niemandem entwinden, das hielt er fest mit Zuhnen und mit Klauen. Nun war ihm wohler. Nachdem es ihm gelungen war, seine nuchtlichen uberlegungen betreffs Kampf mit dem Dumon auf die Ebene einer geschuftlichen Auseinandersetzung herabzudrucken, spurte er, wie frischer Mut, ja ubermut ihn erfasste. Verflogen war der letzte Rest von Angst, verschwunden das Gefuhl von Verzagtheit und grumlicher Sorge, das ihn wie einen senilen Tattergreis gequult hatte, weggeblasen der Nebel von dusteren Ahnungen, in dem er seit Wochen herumtappte. Er befand sich auf vertrautem Terrain und fuhlte sich jeder Herausforderung gewachsen. 43 Erleichtert, vergnugt fast, sprang er aus dem Bett, zog am Klingelband und befahl seinem schlaftrunken hereintaumelnden Diener, Kleider und Proviant zu packen, da er geduchte, bei Tagesanbruch in Begleitung seiner Tochter nach Grenoble zu reisen. Dann zog er sich an und scheuchte das ubrige Personal aus den Betten. Mitten in der Nacht erwachte das Haus in der Rue Droite zu emsigem Leben. In der Kuche flammten die Feuer auf, durch die Gunge huschten die aufgeregten Mugde, treppauf treppab eilte der Diener, in den Kellergewulben klapperten die Schlussel des Lagerverwalters, im Hof leuchteten Fackeln, Knechte liefen um Pferde, andere zerrten die Maultiere aus den Stullen, es wurde gezuumt, gesattelt, gerannt und geladen - man hutte glauben kunnen, die austrosardischen Horden seien plundernd und sengend im Anmarsch wie anno 1746 und der Hausherr ruste in panischer Eile zur Flucht. Doch keineswegs! Der Hausherr saß souverun wie ein Marschall von Frankreich am Schreibtisch seines Kontors, trank Milchkaffee und erließ seine Anweisungen an die stundig hereinsturzenden Domestiken. Nebenher schrieb er Briefe an den Burgermeister und Ersten Konsul, an seinen Notar, an seinen Anwalt, an seinen Bankier in Marseille, an den Baron de Bouyon und an diverse Geschuftspartner. Gegen sechs Uhr fruh hatte er die Korrespondenz erledigt und alle zu seinen Plunen notwendigen Verfugungen getroffen. Er steckte zwei kleine Reisepistolen zu sich, schnallte sich seinen Geldgurtel um und sperrte den Schreibtisch zu. Dann ging er seine Tochter wecken. Um acht setzte sich die kleine Karawane in Bewegung. Richis ritt voran, er war pruchtig anzusehen in einem weinroten, goldbetressten Rock, schwarzer Redingote und schwarzem Hut mit kessem Federbusch. Ihm folgte seine Tochter, bescheidener gekleidet, aber so strahlend schun, dass das Volk auf der Straße und an den Fenstern nur Augen fur sie hatte, dass anduchtige Ahs und Ohs durch die Menge gingen und die Munner ihren Hut zogen - scheinbar vor dem zweiten Konsul, in Wahrheit aber vor ihr, der kuniglichen Frau. Dann kam, fast unbeachtet, die Zofe, dann Richis' Diener mit zwei Packpferden - die Verwendung eines Wagens verbot sich wegen des beruchtigt schlechten Zustands der Grenobler Route -, und den Abschluss des Zuges bildeten ein Dutzend mit allen muglichen Waren beladene Maultiere unter Aufsicht zweier Knechte. An der Porte du Cours prusentierten die Wachen das Gewehr und ließen es erst wieder sinken, als das letzte Maultier vorubergetippelt war. Kinder liefen hinterher, noch eine ganze Weile lang, winkten dem Tross nach, der sich langsam auf dem steilen, gewundenen Weg bergwurts entfernte. Auf die Menschen machte der Auszug des Antoine Richis mit seiner Tochter einen seltsam tiefen Eindruck. Ihnen war, als hutten sie einem archaischen Opfergang beigewohnt. Es hatte sich herumgesprochen, dass Richis nach Grenoble reiste, in jene Stadt also, wo neuerdings das mudchenmordende Monster hauste. Die Leute wussten nicht, was sie davon halten sollten. War es struflicher Leichtsinn, was Richis tat, oder bewundernswerter Mut? War es eine Herausforderung oder eine Besunftigung der Gutter? Sie ahnten nur sehr undeutlich, dass sie das schune Mudchen mit den roten Haaren soeben zum letzten Mal gesehen hatten. Sie ahnten, dass Laure Richis verloren war. Diese Ahnung sollte sich als richtig erweisen, obwohl sie auf vullig falschen Voraussetzungen beruhte. Richis zog numlich keineswegs nach Grenoble. Der pompuse Auszug war nichts als eine Finte gewesen. Anderthalb Meilen nordwestlich von Grasse, in der Nuhe des Dorfes Saint-Vallier, ließ er anhalten. Er hundigte seinem Diener Vollmachten und Begleitschreiben aus und befahl ihm, den Maultiertreck allein mit den Knechten nach Grenoble zu bringen. Er selbst wandte sich mit Laure und der Zofe in Richtung Cabris, wo er eine Mittagspause einlegte, und ritt dann quer durch das Gebirge des Tanneron nach Suden. Der Weg war uußerst beschwerlich, aber er gestattete es, Grasse und das Grasser Becken in einem weiten westlichen Bogen zu umgehen und bis zum Abend unerkannt die Kuste zu erreichen... Am folgenden Tag - so Richis' Plan - wollte er sich mit Laure nach den Lerinischen Inseln ubersetzen lassen, auf deren kleinerer sich das wohlbefestigte Kloster Saint-Honorat befand. Es wurde von einem Huuflein greiser, aber noch durchaus wehrfuhiger Munche bewirtschaftet, mit denen Richis gut bekannt war, denn er kaufte und vertrieb schon seit Jahren die gesamte klusterliche Produktion an Eukalyptuslikur, Pinienkernen und Zypressenul. Und eben dort, im Kloster Saint-Honorat, dem neben dem Zuchthaus von Chateau d'If und dem Staatsgefungnis der Ile Sainte-Mar-guerite wohl sichersten Ort der Provence, gedachte er seine Tochter furs erste unterzubringen. Er selbst wurde unverzuglich wieder aufs Festland zuruckkehren, Grasse diesmal via Antibes und Cagnes ustlich umgehen, um noch am Abend desselben Tages in Vence einzutreffen. Dorthin hatte er bereits seinen Notar bestellt zwecks einer zu treffenden Vereinbarung mit dem Baron de Bouyon uber die Verehelichung ihrer Kinder Laure und Alphonse. Er wollte Bouyon ein Angebot machen, das dieser nicht wurde ablehnen kunnen: ubernahme von Schulden in Huhe von 40000 Livre, Mitgift bestehend aus einer Summe in gleicher Huhe sowie diversen Lundereien und einer ulmuhle bei Maganosc, eine juhrliche Rente von 3000 Livre fur das junge Paar. Einzige Bedingung Richis' war, dass die Ehe innerhalb von zehn Tagen eingegangen und am Hochzeitstag vollzogen wurde, und dass das Paar anschließend Wohnung in Vence nahm. Richis wusste, dass er durch ein so eiliges Vorgehen den Preis fur die Verbindung seines Hauses mit dem Haus derer von Bouyon ganz unverhultnismußig in die Huhe trieb. Bei lungerem Zuwarten hutte er sie billiger bekommen. Gebettelt hutte der Baron darum, die Tochter des burgerlichen Großhundlers durch seinen Sohn standesmußig erhuhen zu durfen, denn der Ruhm von Laures Schunheit wurde ja noch wachsen, ebenso wie Richis' Reichtum und wie Bouyons finanzielle Misere. Aber sei's drum! Nicht der Baron war bei diesem Handel der Gegner, sondern der unbekannte Murder war es. Ihm galt es das Geschuft zu versalzen. Eine verheiratete Frau, defloriert und womuglich schon geschwungert, passte nicht mehr in seine exklusive Galerie. Der letzte Mosaikstein wure blind geworden, Laure hutte fur den Murder jeden Wert verloren, sein Werk wure gescheitert. Und diese Niederlage sollte er zu spuren bekommen! Richis wollte die Hochzeit in Grasse abhalten, mit großem Pomp und in aller uffentlichkeit. Und wenn er seinen Gegner auch nicht kannte und niemals kennen wurde, so sollte es ihm doch ein Genuss sein, zu wissen, dass dieser dem Ereignis beiwohnte und mit eignen Augen zusehen musste, wie ihm das Begehrteste vor der Nase weggeschnappt wurde. Der Plan war fein ausgedacht. Und wieder mussen wir Richis' Gespur bewundern, mit dem er der Wahrheit nahekam. Denn in der Tat hutte die Heimfuhrung der Laure Richis durch den Sohn des Baron de Bouyon fur den Grasser Mudchenmurder eine vernichtende Niederlage bedeutet. Aber noch war der Plan nicht verwirklicht. Noch hatte Richis seine Tochter nicht unter die rettende Haube gebracht. Noch hatte er sie nicht in das sichere Kloster von Saint-Honorat ubergesetzt. Noch schlugen sich die drei Reiter durch das unwirtliche Gebirge des Tanneron. Manchmal waren die Wege so schlecht, dass man von den Pferden absitzen musste. Es ging alles sehr langsam. Gegen Abend hofften sie das Meer bei Napoule zu erreichen, einem kleinen Ort westlich von Cannes. 44 Zu dem Zeitpunkt, da Laure Richis mit ihrem Vater Grasse verließ, befand sich Grenouille am andern Ende der Stadt im Arnulfischen Atelier und mazerierte Jonquillen. Er war allein, und er war guter Dinge. Seine Zeit in Grasse neigte sich dem Ende zu. Der Tag des Triumphes stand bevor. Draußen in der Kabane lagen in einem wattegepolsterten Kustchen vierundzwanzig winzige Flakons mit der zu Tropfen geronnenen Aura von vierundzwanzig Jungfrauen - kostbarste Essenzen, die Grenouille im vergangenen Jahr durch kalte Fettenfleurage der Kurper, Digerieren von Haaren und Kleidern, Lavage und Destillation gewonnen hatte. Und die funfundzwanzigste, die kustlichste und wichtigste, wollte er sich heute holen. Er hatte schon ein Tiegelchen mit mehrfach gereinigtem Fett, ein Tuch von feinstem Leinen und einen Ballon hochrektifizierten Alkohols fur diesen letzten Fischzug vorbereitet. Das Terrain war aufs genaueste sondiert. Es herrschte Neumond. Er wusste, dass ein Einbruchsversuch in das gut gesicherte Anwesen an der Rue Droite sinnlos war. Deshalb wollte er sich schon bei Anbruch der Dummerung, ehe noch die Tore geschlossen wurden, einschleichen und im Schutz der eigenen Geruchlosigkeit, die ihn wie eine Tarnkappe der Wahrnehmung von Mensch und Tier entzog, in irgendeinem Winkel des Hauses verbergen. Sputer dann, wenn alles schlief, wurde er, vom Kompass seiner Nase durch die Dunkelheit gefuhrt, zur Kammer seines Schatzes hinaufsteigen. Er wurde ihn an Ort und Stelle im fettgetrunkten Tuch verarbeiten. Nur Haar und Kleider wurde er wie gewuhnlich mitnehmen, da diese Teile direkt in Weingeist ausgewaschen werden konnten, was sich bequemer in der Werkstatt machen ließ. Fur die Endverarbeitung der Pomade und das Abdestillieren zu Konzentrat veranschlagte er eine weitere Nacht. Und wenn alles gutging - und er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass alles gutgehen wurde -, dann war er ubermorgen im Besitz sumtlicher Essenzen fur das beste Parfum der Welt, und er wurde Grasse verlassen als der bestriechende Mensch auf Erden. Gegen Mittag war er mit seinen Jonquillen fertig. Er luschte das Feuer, deckte den Fettkessel zu und ging vor die Werkstatt, um sich abzukuhlen. Der Wind kam von Westen. Schon mit dem ersten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die Atmosphure war nicht in Ordnung. Im Duftkleid der Stadt, diesem vieltausendfudig gewebten Schleier, fehlte der goldene Faden. Wuhrend der letzten Wochen war dieser duftende Faden so kruftig geworden, dass Grenouille ihn sogar noch jenseits der Stadt bei seiner Kabane deutlich wahrgenommen hatte. Jetzt war er weg, verschwunden, durch intensivstes Schnuppern nicht mehr aufzuspuren. Grenouille war wie geluhmt vor Schreck. Sie ist tot, dachte er. Dann, noch entsetzlicher: Es ist mir ein anderer zuvorgekommen. Ein anderer hat meine Blume abgerupft und ihren Duft an sich gebracht! Einen Schrei brachte er nicht heraus, dazu war seine Erschutterung zu groß, aber zu Trunen reichte es, die in seinen Augenwinkeln schwollen und plutzlich beiderseits der Nase herabsturzten. Da kam Druot aus den >Quatre Dauphins< zum Mittagessen nach Hause und erzuhlte en passant, heute fruh sei der Zweite Konsul mit zwulf Maultieren und einer Tochter nach Grenoble gezogen. Grenouille schluckte die Trunen hinunter und rannte davon, quer durch die Stadt zur Porte du Cours. Auf dem Platz vor dem Tor hielt er an und schnupperte. Und im reinen, von den Stadtgeruchen unberuhrten Westwind fand er tatsuchlich seinen goldenen Faden wieder, dunn und schwach zwar, aber dennoch unverkennbar. Allerdings wehte der geliebte Duft nicht von Nordwesten her, wohin die Straße nach Grenoble fuhrte, sondern eher aus Richtung Cabris - wo nicht gar aus Sudwesten. Grenouille fragte die Wache, welche Straße der Zweite Konsul genommen habe. Der Posten wies nach Norden. Nicht die Straße nach Cabris? Oder die andere, die sudlich nach Auribeau und La Napoule fuhrte? - Bestimmt nicht, sagte der Posten, er habe es mit eigenen Augen gesehen. Grenouille rannte zuruck durch die Stadt zu seiner Kabane, packte Leintuch, Pomadentopf, Spatel, Schere und eine kleine glatte Keule aus Olivenholz in seinen Reisesack und machte sich unverzuglich auf den Weg - nicht auf den Weg nach Grenoble, sondern auf den Weg, den ihm seine Nase wies: nach Suden. Dieser Weg, der direkte Weg nach Napoule, fuhrte an den Ausluufern des Tanneron entlang durch die Flusssenken von Frayere und Siagne. Er war bequem zu gehen. Grenouille kam rasch voran. Als zu seiner Rechten Auribeau auftauchte, oben an den Bergkuppen hungend, roch er, dass er die Fluchtenden fast eingeholt hatte. Wenig sputer war er auf gleicher Huhe mit ihnen. Er roch sie jetzt einzeln, er roch sogar den Dunst ihrer Pferde. Sie konnten huchstens eine halbe Meile westlich sein, irgendwo in den Wuldern des Tanneron. Sie hielten nach Suden, aufs Meer zu. Genau wie er. Gegen funf Uhr nachmittag erreichte Grenouille La Napoule. Er ging in das Gasthaus, aß und bat um ein billiges Lager. Er sei ein Gerbergeselle aus Nizza, sagte er, auf dem Weg nach Marseille . Er kunne im Stall nuchtigen, hieß es. Dort legte er sich in eine Ecke und ruhte aus. Er roch, dass die drei Reiter sich nuherten. Er brauchte nur noch zu warten. Zwei Stunden sputer - es dummerte schon stark kamen sie an. Um ihr Inkognito zu wahren, hatten sie die Kleider gewechselt. Die beiden Frauen trugen nun dunkle Gewunder und Schleier, Richis einen schwarzen Rock. Er gab sich als Edelmann aus, kommend von Castellane; morgen wolle er auf die Lerinischen Inseln ubersetzen, der Wirt solle fur ein Boot sorgen, das bei Sonnenaufgang bereitstunde. Ob außer ihm und seinen Leuten noch andere Guste im Haus seien? Nein, sagte der Wirt, nur ein Gerbergeselle aus Nizza, der nuchtige im Stall. Richis schickte die Frauen auf die Zimmer. Er selbst ging in den Stall, um noch etwas aus den Satteltaschen zu holen, wie er sagte. Zunuchst konnte er den Gerbergesellen nicht finden, er musste sich vom Rossknecht eine Laterne geben lassen. Dann sah er ihn, in einem Winkel auf Stroh und einer alten Decke liegend, den Kopf gegen seinen Reisesack gelehnt, tief schlafend. Er sah so vollkommen unscheinbar aus, dass Richis fur einen Moment den Eindruck hatte, er sei gar nicht vorhanden, sondern nur eine von den schwankenden Schatten der Laternenkerze hingeworfene Schimure. Jedenfalls stand fur Richis augenblicklich fest, dass von diesem geradezu ruhrend harmlosen Wesen nicht die geringste Gefahr zu befurchten war, und er entfernte sich leise, um seinen Schlaf nicht zu sturen, und kehrte ins Haus zuruck. Das Abendessen nahm er gemeinsam mit seiner Tochter auf dem Zimmer ein. Er hatte sie uber Zweck und Ziel der seltsamen Reise nicht aufgeklurt, und er tat es auch jetzt nicht, obwohl sie ihn darum bat. Morgen werde er sie einweihen, sagte er, und sie kunne sich darauf verlassen, dass alles, was er plane und tue, zu ihrem Besten und zukunftigen Gluck ausschlagen werde. Nach dem Essen spielten sie einige Partien L'hombre, die er alle verlor, weil er statt in seine Karten immerfort in ihr Gesicht schaute, um sich an ihrer Schunheit zu ergutzen. Gegen neun Uhr brachte er sie in ihr Zimmer, das dem seinen gegenuberlag, kusste sie zur Nacht und versperrte die Ture von außen. Dann ging er selbst zu Bett. Er war mit einem Mal sehr mude von den Anstrengungen des Tages und der vergangenen Nacht und zugleich sehr zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge. Ohne den geringsten Gedanken der Sorge, ohne dustere Ahnungen, wie sie ihn noch bis gestern jedesmal nach dem Luschen der Lampe gequult und wach gehalten hatten, schlief er sofort ein, und schlief ohne Traum, ohne Gestuhn, ohne krampfhaftes Zucken oder nervuses Um- und Umwulzen des Kurpers. Zum ersten Mal seit langer Zeit fand Richis einen tiefen, ruhigen, erquickenden Schlaf. Um die gleiche Zeit erhob sich Grenouille von seinem Lager im Stall. Auch er war zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge und fuhlte sich uußerst erfrischt, obwohl er keine Sekunde lang geschlafen hatte. Als Richis in den Stall gekommen war, um ihn aufzusuchen, hatte er sich nur schlafend gestellt, um den Eindruck von Harmlosigkeit, den er an und fur sich schon wegen seines Unauffulligkeitsgeruchs ausstrahlte, noch augenscheinlicher zu machen. Anders als Richis ihn, hatte ubrigens er Richis uußerst pruzise wahrgenommen, olfaktorisch numlich, und Richis' Erleichterung angesichts seiner war ihm keineswegs entgangen. Und so hatten sich beide bei ihrer kurzen Begegnung gegenseitig von ihrer Arglosigkeit uberzeugt, zu Unrecht und zu Recht, und das war gut so, wie Grenouille fand, denn seine scheinbare und Richis' wirkliche Arglosigkeit erleichterten ihm, Grenouille, das Geschuft - eine Anschauung ubrigens, die Richis im umgekehrten Fall durchaus geteilt hutte. 45 Mit professioneller Beduchtigkeit ging Grenouille ans Werk. Er uffnete den Reisesack, entnahm ihm Leintuch, Pomade und Spatel, breitete das Tuch uber die Decke, auf der er gelegen hatte, und begann es mit der Fettpaste zu bestreichen. Das war eine Arbeit, die ihre Zeit brauchte, denn es kam darauf an, das Fett hier in dickerer, dort in dunnerer Schicht aufzutragen, je nachdem, an welche Stelle des Kurpers die jeweilige Partie des Tuches zu liegen kume. Mund und Achsel, Brust, Geschlecht und Fuße gaben grußere Duftmengen ab als etwa Schienbeine, Rucken und Ellbogen; Handfluchen grußere als Handrucken; Brauen grußere als Lider etc. - und mussten dementsprechend kruftiger mit Fett versehen werden. Grenouille modellierte also gleichsam ein Duftdiagramm des zu behandelnden Kurpers auf das Leintuch, und dieser Teil der Arbeit war ihm eigentlich der befriedigendste, denn es handelte sich um eine kunstlerische Technik, die Sinne, Phantasie und Hunde gleichermaßen beschuftigte und obendrein den Genuss des zu erwartenden Endergebnisses auf ideelle Weise vorwegnahm. Als er das ganze Tupfchen Pomade aufgebraucht hatte, tupfte er noch da und dort, nahm an einer Stelle des Tuches Fett ab, fugte an einer anderen zu, retuschierte, uberprufte noch einmal die modellierte Fettlandschaft - mit der Nase ubrigens, nicht mit den Augen, denn das ganze Geschuft spielte sich in vollkommener Finsternis ab, was vielleicht ein weiterer Grund fur Grenouilles ausgeglichen freudige Stimmung war. In dieser Neumondnacht lenkte ihn nichts ab. Die Welt war nichts als nur Geruch und ein wenig Brandungsgeruusch vom Meer her. Er war in seinem Element. Dann schlug er das Tuch zusammen wie eine Tapete, so dass die befetteten Fluchen aufeinanderlagen. Es war ihm dies eine schmerzliche Handlung, denn er wusste wohl, dass sich selbst bei aller Vorsicht Teile der ausgeformten Konturen dadurch abplatteten und verschoben. Aber es gab keine andere Muglichkeit, das Tuch zu transportieren. Nachdem er es soweit gefaltet hatte, dass er es ohne allzugroße Behinderung uber den Unterarm gelegt tragen konnte, steckte er Spatel, Schere und die kleine Olivenholzkeule zu sich und schlich hinaus ins Freie. Der Himmel war bedeckt. Im Haus brannte kein Licht mehr. Der einzige Funken in dieser stockfinsteren Nacht zuckte im Osten auf dem Leuchtturm des Forts auf der Ile Sainte-Marguerite, uber eine Meile entfernt, ein winziger heller Nadelstich in rabenschwarzem Tuch. Aus der Bucht kam ein leichter fischiger Wind. Die Hunde schliefen. Grenouille ging zur uußeren Tennenluke, an die eine Leiter gelehnt stand. Er hob die Leiter ab und balancierte sie aufrecht, drei Sprossen unter den freien rechten Arm geklemmt, den uberstand gegen die rechte Schulter gepresst, uber den Hof bis unter ihr Fenster. Das Fenster stand halb offen. Als er die Leiter hinaufstieg, bequem wie auf einer Treppe, begluckwunschte er sich zu dem Umstand, den Duft des Mudchens hier in Napoule ernten zu durfen. In Grasse, bei vergitterten Fenstern und streng bewachtem Haus, wure alles sehr viel schwieriger gewesen. Hier schlief sie sogar allein. Er brauchte nicht einmal die Zofe auszuschalten. Er druckte den Fensterflugel auf, schlupfte in die Kammer und legte das Laken ab. Dann wandte er sich dem Bett zu. Der Duft ihres Haares dominierte, denn sie lag auf dem Bauch, und sie hatte das Gesicht, vom Armwinkel umrahmt, ins Kissen gedruckt, so dass sich ihr Hinterkopf in geradezu idealer Weise dem Keulenschlag prusentierte. Das Geruusch des Schlages war dumpf und knirschend. Er hasste es. Er hasste es allein deshalb, weil es ein Geruusch war, ein Geruusch in seinem ansonsten lautlosen Geschuft. Nur mit zusammengebissenen Zuhnen konnte er dieses ekelhafte Geruusch ertragen, und nachdem es voruber war, stand er noch eine Weile lang steif und verbissen da, die Hand um die Keule gekrampft, als furchte er, das Geruusch kunne zuruckkehren als widerhallendes Echo von irgendwoher. Es kehrte aber nicht zuruck, sondern die Stille kehrte zuruck in die Kammer, eine vermehrte Stille sogar, da nun nicht einmal mehr der schlurfende Atem des Mudchens ging. Und alsbald luste sich Grenouilles verspannte Haltung (die man vielleicht auch als eine Ehrfurchtshaltung oder eine Art verkrampfter Schweigeminute hutte deuten kunnen), und sein Kurper sank geschmeidig in sich zusammen. Er steckte die Keule weg und war nun nur noch von emsiger Betriebsamkeit erfullt. Als erstes faltete er das Beduftungstuch auseinander, breitete es locker mit der Ruckseite uber Tisch und Stuhle und achtete darauf, dass die Fettseite unberuhrt blieb. Dann schlug er die Bettdecke zuruck. Der herrliche Duft des Mudchens, der plutzlich warm und massiv aufquoll, beruhrte ihn nicht. Er kannte ihn ja, und genießen, genießen bis zum Rausch, wurde er ihn sputer, wenn er ihn erst wirklich besaß. Jetzt ging es darum, muglichst viel davon einzufangen, muglichst wenig verstrumen zu lassen, jetzt waren Konzentration und Eile geboten. Mit raschen Scherenschnitten schlitzte er das Nachtgewand auf, zog es ihr aus, ergriff das befettete Laken und warf es uber ihren nackten Kurper. Dann hob er sie hoch, strich ihr das uberhungende Tuch unter, rollte sie ein wie ein Bucker den Strudel, falzte die Enden, umhullte sie von den Zehen bis an die Stirn. Nur ihr Haar schaute noch aus dem Mumienverband hervor. Er schnitt es dicht uber der Kopfhaut ab, packte es in ihr Nachthemd, das er zu einem Bundel verknotete. Zuletzt klappte er ein freigelassenes Stuck Tuch uber den geschorenen Schudel, strich das uberlappende Ende glatt, tupfte es mit zartem Fingerdruck fest. Er uberprufte das ganze Paket. Kein Schlitz, kein Luchlein, kein aufgekniffenes Fultlein klaffte mehr, an dem der Duft des Mudchens hutte entweichen kunnen. Sie war perfektverpackt. Es blieb nichts mehr zu tun, als zu warten, sechs Stunden lang, bis der Morgen graute. Er nahm den kleinen Sessel, auf dem ihre Kleider lagen, trug ihn ans Bett und setzte sich. In dem weiten schwarzen Gewand hing noch der zarte Hauch ihres Duftes, vermischt mit dem Geruch von Anisplutzchen, die sie als Reiseproviant in die Tasche gesteckt hatte. Er legte seine Fuße auf den Bettrand, in die Nuhe ihrer Fuße, deckte sich mit ihrem Kleid zu und aß die Anisplutzchen. Er war mude. Aber er wollte nicht schlafen, denn es gehurte sich nicht, dass man wuhrend der Arbeit schlief, auch wenn die Arbeit nur aus Warten bestand. Er erinnerte sich an die Nuchte, die er in der Werkstatt Baldinis beim Destillieren verbracht hatte: an den rußgeschwurzten Alambic, an das flackernde Feuer, an das leise spuckende Geruusch, mit dem das Destillat aus dem Kuhlrohr in die Florentinerflasche trupfelte. Von Zeit zu Zeit hatte man nach dem Feuer sehen mussen, hatte Destillierwasser nachfullen, die Florentinerflasche wechseln, das erschupfte Destilliergut ersetzen mussen. Und dennoch war ihm immer gewesen, als wache man nicht, um diese gelegentlich anfallenden Tutigkeiten zu verrichten, sondern als habe die Wache ihren eigenen Sinn. Selbst hier in dieser Kammer, wo sich der Prozess der Enfleurage ganz von allein vollzog, ja, wo sogar ein unzeitiges Prufen, Wenden und Betun des duftenden Pakets nur sturend hutte wirken kunnen selbst hier, so schien Grenouille, war seine wachende Gegenwart wichtig. Der Schlaf hutte den Geist des Gelingens gefuhrdet. Es fiel ihm im ubrigen nicht schwer, wachzubleiben und zu warten, trotz seiner Mudigkeit. Dieses Warten liebte er. Auch bei den vierundzwanzig anderen Mudchen hatte er es geliebt, denn es war ja kein dumpfes Dahinwarten und auch kein sehnsuchtiges Herbeiwarten, sondern ein begleitendes, sinnvolles, gewissermaßen ein tutiges Warten. Es tat sich etwas wuhrend dieses Wartens. Das Wesentliche tat sich. Und wenn er es auch nicht selbst tat, so tat es sich doch durch ihn. Er hatte sein Bestes gegeben. Er hatte all seine Kunstfertigkeit aufgebracht. Kein Fehler war ihm unterlaufen. Das Werk war einzigartig. Es wurde von Erfolg gekrunt sein... Nur noch ein paar Stunden warten musste er. Es befriedigte ihn zutiefst, dieses Warten. Er hatte sich in seinem Leben nie so wohl gefuhlt, so ruhig, so ausgeglichen, so eins und einig mit sich selbst - auch damals nicht in seinem Berg - wie in diesen Stunden der handwerklichen Pause, da er in tiefster Nacht bei seinen Opfern saß und wachend wartete. Es waren die einzigen Momente, da sich in seinem dusteren Hirn fast heitere Gedanken bildeten. Sonderbarerweise gingen diese Gedanken nicht in die Zukunft. Er dachte nicht an den Duft, den er in ein paar Stunden ernten wurde, nicht an das Parfum aus funfundzwanzig Mudchenauren, nicht an kunftige Plune, Gluck und Erfolg. Nein, er gedachte seiner Vergangenheit. Er erinnerte sich an die Stationen seines Lebens vom Hause der Madame Gaillard und dem feuchtwarmen Holzstoß davor bis zu seiner heutigen Reise in das kleine fischig riechende Dorf Napoule. Er gedachte des Gerbers Grimal, Giuseppe Baldinis, des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er gedachte der Stadt Paris, ihres großen tausendfach schillernden ublen Brodems, er gedachte des rothaarigen Mudchens in der Rue des Marais, des freien Landes, des dunnen Winds, der Wulder. Er gedachte auch des Bergs in der Auvergne - er umging diese Erinnerung keineswegs -, seiner Huhle, der menschenleeren Luft. Er gedachte auch seiner Truume. Und er gedachte all dieser Dinge mit großem Wohlgefallen. Ja, es schien ihm, wenn er so zuruckdachte, dass er ein vom Gluck besonders begunstigter Mensch sei und dass sein Schicksal ihn auf zwar verschlungenen, doch letzten Endes richtigen Wegen gefuhrt habe - wie wure es sonst muglich gewesen, dass er hierhergefunden hutte, in diese dunkle Kammer, ans Ziel seiner Wunsche? Er war, wenn er sich's recht uberlegte, ein wirklich begnadetes Individuum! Ruhrung stieg in ihm auf, Demut und Dankbarkeit. "Ich danke dir", sagte er leise, "ich danke dir, Jean-Baptiste Grenouille, dass du so bist, wie du bist!" So ergriffen war er von sich selbst. Dann schloss er die Lider - nicht, um zu schlafen, sondern um sich ganz dem Frieden dieser Heiligen Nacht hinzugeben. Der Friede erfullte sein Herz. Aber es schien ihm, als herrsche er auch ringsum. Er roch den friedlichen Schlaf der Zofe im Nebenzimmer, den tiefbefriedigten Schlaf des Antoine Richis jenseits des Ganges, er roch den friedlichen Schlummer des Wirts und der Knechte, der Hunde, der Tiere im Stall, des ganzen Orts und des Meeres. Der Wind hatte sich gelegt. Alles war still. Nichts sturte den Frieden. Einmal bog er seinen Fuß zur Seite und beruhrte ganz sacht den Fuß von Laure. Nicht ihren Fuß eigentlich, sondern gerade eben das Tuch, das ihn umhullte, mit der dunnen Schicht Fett darunter, die sich mit ihrem Duft trunkte, mit ihrem herrlichen Duft, mit seinem. 46 Als die Vugel zu schreien begannen - also noch geraume Zeit vor Anbruch der Morgendummerung -, erhob er sich und vollendete seine Arbeit. Er schlug das Tuch auseinander und zog es wie ein Pflaster von der Toten ab. Das Fett schulte sich gut von der Haut. Nur an den verwinkelten Stellen blieben einige Reste hungen, die er mit dem Spatel abstreichen musste. Die ubrigen Pomadeschlieren wischte er mit Laures eigenem Unterhemd auf, mit dem er zuletzt auch noch den Kurper von Kopf bis Fuß abrubbelte, so grundlich, dass sich selbst noch das Porenfett in Krumeln von der Haut rieb, und mit ihm die letzten Fusselchen und Fitzelchen ihres Duftes. Jetzt erst war sie fur ihn wirklich tot, abgewelkt, blass und schlaff wie Blutenabfall. Er warf das Unterhemd ins große enfleurierte Tuch, in dem allein sie weiterlebte, legte das Nachtgewand mit ihren Haaren dazu und rollte alles zu einem kleinen festen Paket zusammen, das er sich unter den Arm klemmte. Er nahm sich nicht die Muhe, die Leiche auf dem Bett zuzudecken. Und obwohl die Nachtschwurze sich schon ins Blaugraue der Morgendummerung verwandelt hatte und die Dinge im Zimmer Kontur anzunehmen begannen, warf er keinen Blick mehr auf ihr Bett, um sie wenigstens ein einziges Mal in seinem Leben mit Augen zu sehen. Ihre Gestalt interessierte ihn nicht. Sie war fur ihn als Kurper gar nicht mehr vorhanden, nur noch als kurperloser Duft. Und diesen trug er unterm Arm und nahm ihn mit sich. Leise schwang er sich auf die Brustung des Fensters und stieg die Leiter hinab. Draußen war wieder Wind aufgekommen, und der Himmel klarte auf und goss ein kaltes dunkelblaues Licht uber das Land. Eine halbe Stunde sputer schlug die Magd in der Kuche Feuer. Als sie vor das Haus trat, um Holz zu holen, sah sie die angelehnte Leiter, war aber noch zu verschlafen, sich irgendeinen Reim darauf zu machen. Kurz nach sechs ging die Sonne auf. Riesig und goldrot hob sie sich zwischen den beiden Lerinischen Inseln aus dem Meer. Keine Wolke war am Himmel. Ein strahlender Fruhlingstag begann. Richis, dessen Zimmer nach Westen lag, erwachte um sieben. Er hatte zum ersten Mal seit Monaten wirklich pruchtig geschlafen und blieb entgegen seiner Gewohnheit noch eine Viertelstunde lang liegen, rukelte sich und seufzte vor Vergnugen und lauschte dem angenehmen Rumoren, das aus der Kuche heraufdrang. Als er dann aufstand und das Fenster weit uffnete und draußen das schune Wetter gewahrte und die frische wurzige Morgenluft einsog und die Brandung des Meeres hurte, da kannte seine gute Laune keine Grenzen mehr, und er spitzte die Lippen und pfiff eine muntere Melodie. Wuhrend er sich ankleidete, pfiff er weiter und pfiff immer noch, als er sein Zimmer verließ und mit beschwingtem Schritt uber den Gang an die Kammerture seiner Tochter trat. Er pochte. Und pochte wieder, ganz leise, um sie nicht aufzuschrecken. Es kam keine Antwort. Er luchelte. Er verstand gut, dass sie noch schlief. Vorsichtig schob er den Schlussel ins Loch und drehte den Riegel, leise, ganz leise, bedacht, sie nicht zu wecken, begierig fast, sie noch im Schlaf vorzufinden, aus dem er sie wachkussen wollte, noch einmal, zum letzten Mal, ehe er sie einem undern Mann geben musste. Die Ture sprang auf, er trat ein, und das Sonnenlicht fiel ihm voll ins Gesicht. Die Kammer war wie von gleißendem Silber gefullt, alles strahlte, und er musste vor Schmerz fur einen Moment die Augen schließen. Als er sie wieder uffnete, sah er Laure auf dem Bett liegen, nackt und tot und kahlrasiert und blendend weiß. Es war wie in dem Alptraum, den er vorvergangene Nacht in Grasse gehabt und wieder vergessen hatte, und dessen Inhalt ihm jetzt wie ein Blitzschlag ins Geduchtnisuhr. Alles war mit einem Mal haargenau wie in jenem Traum, nur sehr viel heller. 47 Die Nachricht vom Mord an Laure Richis verbreitete sich so schnell im Grasser Land, als hutte es geheißen "Der Kunig ist tot!" oder "Es gibt Krieg!" oder "Die Piraten sind an der Kuste gelandet!", und uhnlichen, schlimmeren Schrecken luste sie aus. Mit einem Mal war die sorgfultig vergessene Angst wieder da, virulent wie im vergangenen Herbst, mit all ihren Begleiterscheinungen: der Panik, der Empurung, der Wut, den hysterischen Verduchtigungen, der Verzweiflung. Die Menschen blieben nachts in den Huusern, sperrten ihre Tuchter ein, verbarrikadierten sich, misstrauten einander und schliefen nicht mehr. Jedermann dachte, es werde nun weitergehen wie damals, jede Woche ein Mord. Die Zeit schien um ein halbes Jahr zuruckgesetzt. Luhmender noch als vor einem halben Jahr war die Angst, denn die plutzliche Ruckkunft der lungst uberwunden geglaubten Gefahr verbreitete ein Gefuhl von Hilflosigkeit unter den Menschen. Wenn selbst des Bischofs Fluch versagte! Wenn Antoine Richis, der große Richis, der reichste Burger der Stadt, der Zweite Konsul, ein muchtiger, besonnener Mann, dem alle Hilfsmittel zu Gebote standen, sein eigenes Kind nicht schutzen konnte! Wenn des Murders Hand nicht einmal vor der heiligen Schunheit Laures zuruckschreckte - denn in der Tat wie eine Heilige erschien sie allen, die sie gekannt hatten, vor allem jetzt, hinterher, als sie tot war. Was gab es da noch fur Hoffnung, dem Murder zu entgehen? Er war grausamer als die Pest, denn vor der Pest konnte man fliehen, vor diesem Murder aber nicht, wie das Beispiel Richis' bewies. Er besaß offenbar uberirdische Fuhigkeiten. Er stand ganz gewiss mit dem Teufel im Bund, wenn er nicht selbst der Teufel war. Und so wussten sich viele, vor allem die einfultigeren Gemuter, keinen anderen Rat, als in die Kirche zu gehen und zu beten, ein jeder Berufsstand zu seinem Patron, die Schlosser zum Heiligen Aloysius, die Weber zum Heiligen Krispinius, die Gurtner zum Heiligen Antonius, die Parfumeure zum Heiligen Josephus. Und sie nahmen ihre Frauen und Tuchter mit, beteten gemeinsam, aßen und schliefen in der Kirche, verließen sie selbst am Tage nicht mehr, uberzeugt, im Schutz der verzweifelten Gemeinschaft und im Angesicht der Madonna die einzig mugliche Sicherheit vor dem Ungeheuer zu finden, sofern es uberhaupt noch Sicherheit gab. Andere, gewitztere Kupfe, schlossen sich, da die Kirche bereits schon einmal versagt hatte, zu okkulten Gruppen zusammen, engagierten fur viel Geld eine approbierte Hexe aus Gourdon, verkrochen sich in eine der vielen Kalksteingrotten des Grasser Untergrunds und veranstalteten Satansmessen, um sich den Leibhaftigen geneigt zu machen. Wieder andere, vornehmlich Mitglieder des gehobenen Burgertums und des gebildeten Adels, setzten auf modernste wissenschaftliche Methoden, magnetisierten ihre Huuser, hypnotisierten ihre Tuchter, bildeten fluidale Schweigekreise in ihren Salons und versuchten, mit gemeinschaftlich produzierten Gedankenemissionen den Geist des Murders telepathisch zu bannen. Die Korporationen organisierten eine Bußprozession von Grasse nach Napoule und zuruck. Die Munche aus den funf Klustern der Stadt richteten einen permanenten Bittgottesdienst ein, mit Dauergesungen, so dass bald an dieser, bald an jener Ecke der Stadt ein ununterbrochenes Lamento zu huren war, bei Tag und bei Nacht. Gearbeitet wurde kaum noch. So harrte das Volk von Grasse in fieberhafter Untutigkeit, beinahe mit Ungeduld, des nuchsten Mordanschlags. Dass er bevorstand, bezweifelte niemand. Und insgeheim sehnte jeder die Schreckensnachricht herbei, in der einzigen Hoffnung, dass sie nicht ihn selbst, sondern einen anderen betrufe. Die Obrigkeit allerdings in Stadt, Land und Provinz ließ sich diesmal nicht von der hysterischen Stimmung des Volkes anstecken. Zum ersten Mal, seitdem der Mudchenmurder aufgetreten war, kam es zu planvoller und ersprießlicher Zusammenarbeit zwischen den Vogteien von Grasse, Draguignan und Toulon, zwischen Magistraten, Polizei, Intendant, Parlament und Marine. Der Grund fur dieses solidarische Vorgehen der Muchtigen war einerseits die Befurchtung eines allgemeinen Volksaufstandes, andrerseits die Tatsache, dass man seit dem Mord an Laure Richis Anhaltspunkte hatte, die eine systematische Verfolgung des Murders uberhaupt erst ermuglichten. Der Murder war gesehen worden. Offensichtlich handelte es sich um jenen ominusen Gerbergesellen, der sich in der Mordnacht im Stall des Gasthofs von Napoule aufgehalten hatte und am nuchsten Morgen spurlos verschwunden war. Nach ubereinstimmenden Angaben des Wirts, des Stallknechts und Richis' war er ein unscheinbarer, kleingewachsener Mann mit bruunlichem Rock und grobleinenem Reisesack. Obwohl ansonsten die Erinnerung der drei Zeugen seltsam vage blieb, sie etwa Gesicht, Haarfarbe oder Sprache des Mannes nicht hutten beschreiben kunnen, wusste der Wirt doch noch zu sagen, dass ihm, wenn er sich nicht tuusche, an Haltung und Gang des Fremden etwas Linkisches, Hinkendes aufgefallen sei, wie von einer Beinverletzung oder einem verkruppelten Fuß. Mit diesen Indizien versehen nahmen schon gegen Mittag des Mordtags zwei Reiterabteilungen der Marechaussee die Verfolgung des Murders in Richtung Marseille auf - eine an der Kuste entlang, die andere uber den Weg im Landesinnern. Die nuhere Umgebung von Napoule ließ man von Freiwilligen durchkummen. Zwei Kommissionure des Grasser Landgerichts reisten nach Nizza, um dort Nachforschungen uber den Gerbergesellen anzustellen. In den Hufen von Frejus, Cannes und Antibes wurden alle auslaufenden Schiffe kontrolliert, an der Grenze nach Savoyen jeder Weg gesperrt, Reisende hatten sich auszuweisen. Eine steckbriefliche Beschreibung des Tuters erschien fur die, die lesen konnten, an allen Stadttoren von Grasse, Vence, Gourdon und an den Kirchturen der Durfer. Dreimal tuglich wurde sie ausgeschrieen. Die Sache mit dem vermuteten Klumpfuß besturkte freilich die Ansicht, es handle sich bei dem Tuter um den Teufel selbst, und schurte deshalb eher die Panik in der Bevulkerung, als dass man verwertbare Hinweise erhielt. Erst nachdem der Grasser Gerichtsprusident im Auftrag Richis' eine Belohnung von nicht weniger als zweihundert Livres fur Hinweise zur Ergreifung des Tuters ausgeschrieben hatte, fuhrten Denunziationen zur Festnahme einiger Gerbergesellen in Grasse, Opio und Gourdon, von denen einer tatsuchlich das Ungluck hatte, zu hinken. Diesen gedachte man schon trotz seinem durch mehrere Zeugen gefestigten Alibi der Folter zu unterziehen, als sich, am zehnten Tag nach geschehenem Mord, ein Mann der Stadtwache bei der Magistratur meldete und den Richtern folgende Aussage machte: Am Mittag jenes Tages sei er, Gabriel Tagliasco, Hauptmann der Wache, an der Porte du Cours wie gewuhnlich Dienst tuend, von einem Individuum, auf welches, wie er jetzt wisse, die steckbriefliche Beschreibung ziemlich passe, angesprochen und wiederholt und in dringlicher Weise nach dem Weg gefragt worden, auf welchem der Zweite Konsul mit seiner Karawane am Morgen die Stadt verlassen habe. Dem Vorfall selbst habe er weder damals noch sputer irgendeine Bedeutung beigemessen, und auch an das Individuum hutte er sich aus eigener Kraft mit Bestimmtheit nicht mehr erinnern kunnen - es sei so durchaus unbemerkenswert gewesen -, wenn er es nicht gestern zufullig wieder gesehen hutte, und zwar hier in Grasse, in der Rue de la Louve, vor dem Atelier des Maitre Druot und der Madame Arnulfi, bei welcher Gelegenheit ihm auch aufgefallen sei, dass der Mensch, in die Werkstatt zuruckkehrend, deutlich gehinkt habe. Eine Stunde sputer wurde Grenouille verhaftet. Der Wirt und sein Stallknecht aus Napoule, die sich wegen der Identifizierung der anderen Verduchtigen in Grasse aufhielten, erkannten ihn sofort als den Gerbergesellen wieder, der bei ihnen ubernachtet hatte: Dieser sei's und kein anderer, dieser musse der gesuchte Murder sein. Man untersuchte die Werkstatt, man untersuchte die Kabane im Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster. In einer Ecke, kaum versteckt, lagen das zerschnittene Nachtgewand, das Unterhemd und die roten Haare der Laure Richis. Und als man den Boden aufgrub, kamen nach und nach die Kleider und Haare der anderen vierundzwanzig Mudchen zum Vorschein. Die Holzkeule fand sich, mit der die Opfer erschlagen worden waren, und der leinene Reisesack. Die Indizien waren uberwultigend. Man ließ die Kirchenglocken luuten. Der Gerichtsprusident gab durch Ausruf und Anschlag bekannt, dass der beruchtigte Mudchenmurder, nach dem man fast ein Jahr lang gefahndet habe, endlich gefasst und in festem Gewahrsam sei. 48 Zunuchst glaubten die Leute nicht an die Verlautbarung. Sie hielten sie fur eine Finte, mit der die Behurden ihre eigene Unfuhigkeit kaschieren und die gefuhrlich gereizte Stimmung des Volkes beruhigen wollten. Zu gut erinnerte man sich noch der Zeit, da es geheißen hatte, der Murder sei nach Grenoble abgezogen. Zu fest hatte sich diesmal die Angst in die Seelen der Menschen gefressen. Erst als am folgenden Tag auf dem Kirchplatz vor der Pruvotu die Beweisstucke uffentlich ausgestellt wurden - es war ein schauerliches Bild, die funfundzwanzig Gewunder mit den funfundzwanzig Haarbuscheln, wie Vogelscheuchen an Stangen aufgezogen, an der Stirnseite des Platzes, der Kathedrale gegenuber, aufgereiht zu sehen - da wandelte sich die uffentliche Meinung. Zu vielen Hunderten defilierten die Menschen an der makabren Galerie voruber. Angehurige der Opfer, die die Kleider wiedererkannten, brachen schreiend zusammen. Die ubrige Menge, teils aus Sensationslust, teils um vullig uberzeugt zu sein, begehrte den Murder zu sehen. Die Rufe nach ihm wurden bald so laut, die Unruhe auf dem kleinen, menschenwogenden Platz so bedrohlich, dass der Prusident sich entschloss, Grenouille aus seiner Zelle heraufbringen zu lassen und ihn an einem Fenster des ersten Stocks der Pruvotu zu prusentieren. Als Grenouille ans Fenster trat, verstummte das Gebrull. Es war mit einem Mal so vollstundig still wie an einem heißen Sommertag zur Mittagsstunde, wenn alles draußen auf den Feldern ist oder sich in den Schatten der Huuser verkriecht. Kein Tritt, kein Ruuspern, kein Atmen war mehr zu huren. Die Menge war nur noch Auge und offener Mund, minutenlang. Kein Mensch konnte es fassen, dass der windige, kleine, geduckte Mann dort oben am Fenster, dieses Wurstchen, dieses armselige Huuflein, dieses Nichts, uber zwei Dutzend Morde begangen haben sollte. Er sah einem Murder einfach nicht gleich. Niemand hutte zwar sagen kunnen, wie er sich den Murder, diesen Teufel, eigentlich vorgestellt hatte, aber alle waren sich einig: so nicht! Und dennoch - obwohl der Murder den Vorstellungen der Leute so gar nicht entsprach und seine Prusentation daher, wie man wurde meinen kunnen, wenig uberzeugend hutte wirken sollen, ging paradoxerweise allein von der Leibhaftigkeit dieses Menschen am Fenster und von der Tatsache, dass eben nur er und kein anderer als Murder prusentiert wurde, eine uberzeugende Wirkung aus. Sie dachten alle: Das kann doch nicht wahr sein! - und wussten im selben Moment, dass es wahr sein musse. Freilich, erst als die Wachen das Munnlein wieder zuruck ins Dunkel des Zimmers gezogen hatten, erst als es also nicht mehr gegenwurtig und sichtbar, sondern nur noch, wenn auch fur kurzeste Zeit, als Erinnerung, fast muchte man sagen als Begriff in den Hirnen der Menschen existierte, als Begriff eines abscheulichen Murders - da erst wich die Verbluffung der Menge und schaffte Raum fur eine angemessene Reaktion: Die Munder klappten zu, die tausend Augen belebten sich wieder. Und dann erscholl es in einem einzigen donnernden Wut- und Racheschrei: "Wir wollen ihn haben!" Und sie schickten sich an, die Pruvotu zu sturmen, um ihn mit eigenen Hunden zu erwurgen, zu zerreißen und zu zerstuckeln. Die Wachen hatten alle Muhe, das Tor zu verrammeln und den Mob zuruckzudrungen. Grenouille wurde schleunigst in sein Verlies gebracht. Der Prusident trat ans Fenster und versprach ein schnelles und exemplarisch strenges Verfahren. Trotzdem dauerte es noch Stunden, ehe sich die Menge verlaufen, noch Tage, eh sich die Stadt leidlich beruhigt hatte. In der Tat ging der Prozess gegen Grenouille uußerst zugig vonstatten, da nicht nur die Beweismittel erdruckend waren, sondern der Angeklagte selbst bei den Vernehmungen ohne Umschweife die ihm zur Last gelegten Morde gestand. Allein nach seinen Motiven befragt, wusste er keine befriedigende Antwort zu geben. Er wiederholte immer nur, er habe die Mudchen gebraucht und sie deshalb erschlagen. Wozu er sie gebraucht habe und was das uberhaupt bedeuten sollte, "er habe sie gebraucht" - dazu schwieg er. Man uberantwortete ihn daraufhin der Folter, hungte ihn stundenlang an den Fußen auf, pumpte ihm sieben Finten Wasser ein, setzte Fußzwingen - ohne den geringsten Erfolg. Der Mensch schien gegen kurperliche Schmerzen unempfindlich, gab keinen Laut von sich und sagte, wenn er abermals befragt wurde, nichts als: "Ich habe sie gebraucht. " Die Richter hielten ihn fur geisteskrank. Sie setzten die Folter ab und beschlossen, das Verfahren ohne weitere Vernehmungen zu Ende zu bringen. Die einzige Verzugerung, die sich noch ergab, war ein juristisches Geplunkel mit dem Magistrat von Draguignan, in dessen Vogtei La Napoule gelegen war, und dem Parlament in Aix, welche beide den Prozess an sich bringen wollten. Aber die Grasser Richter ließen sich die Sache nicht mehr entwinden. Sie waren es gewesen, die den Tuter gefasst hatten, in ihrem Zustundigkeitsbereich war die uberwiegende Anzahl der Morde begangen worden, und ihnen drohte der geballte Volkszorn, wenn sie den Murder einem anderen Gericht uberließen. Sein Blut musste in Grasse fließen. Am 15. April 1766 wurde das Urteil gefullt und dem Angeklagten in seiner Zelle verlesen: "Der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille", so hieß es da, "soll binnen achtundvierzig Stunden auf den Cours vor die Tore der Stadt gefuhrt, dort, das Gesicht zum Himmel, auf ein Holzkreuz gebunden werden, bei lebendigem Leib zwulf Schluge mit einer eisernen Stange erhalten, die ihm die Gelenke der Arme, Beine, Huften und Schultern zerschmettern, und danach auf dem Kreuze angeflochten aufgestellt werden bis zu seinem Tode." Die ubliche Gnadenpraxis, den Delinquenten nach dem Zerschmettern mittels eines Fadens zu erwurgen, wurde dem Scharfrichter ausdrucklich untersagt, auch wenn der Todeskampf sich uber Tage hinziehen sollte. Die Leiche sei nuchtens auf dem Schindanger zu vergraben, der Ort nicht zu kennzeichnen. Grenouille nahm den Spruch ohne Regung entgegen. Der Gerichtsdiener fragte ihn nach seinem letzten Wunsch. "Nichts", sagte Grenouille; er habe alles, was er brauche. Ein Priester ging in die Zelle, um ihm die Beichte abzunehmen, kam aber schon nach einer Viertelstunde unverrichteter Dinge wieder heraus. Der Verurteilte habe ihn bei der Erwuhnung des Namens Gottes so absolut verstundnislos angeschaut, als h